Kurz nach der Ratifizierung der US-Verfassung wurden in der Bill of Rights besondere Garantien für die Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie das Recht auf faire Gerichtsverfahren hinzugefügt – mit dem Ziel, den Befugnissen der gerade erst geschaffenen Regierung Grenzen zu setzen. Auf diesen Präzedenzfall haben sich die wissenschaftlichen Berater im Weißen Haus Biden berufen, als sie eine neue Bill of Rights vorschlugen, die die Bürger angesichts der transformativen Technologie der künstlichen Intelligenz (KI) schützen soll. Dies ist eine bewundernswerte Initiative, die meiner Meinung nach jedoch weltweit gelten sollte, nicht nur für die Amerikaner.
Wenn der Gedanke an eine neue Bill of Rights grandios erscheint, sollte man den Kontext bedenken. Der internationale und nationale Schutz der Grundrechte und des Schutzes vor Missbrauch und Diskriminierung durch Regierungen und Unternehmen hat seit dem Zweiten Weltkrieg große Fortschritte gemacht. Aber diese richten sich an menschliche Akteure. Zum ersten Mal werden Entscheidungen, die für das Wohlergehen der Menschen von entscheidender Bedeutung sind, teilweise oder sogar vollständig von Maschinen getroffen – von Bewerbungen über die Kreditwürdigkeit bis hin zu medizinischen Verfahren oder Gefängnisstrafen. Und es stellt sich heraus, dass Algorithmen zur Entscheidungsfindung überraschend anfällig für Fehler oder Verzerrungen sind. Technologien zur Gesichtserkennung haben Probleme mit dunkleren Hauttönen. Was Maschinen lernen, wird von den Vorurteilen derjenigen beeinflusst, die sie programmieren, und von den unvollständigen Datensätzen, die sie erhalten.
Wenn die Dinge aus dem Ruder laufen, kann es schwierig sein, Menschen zu finden, die die Verantwortung übernehmen. Im Vereinigten Königreich hat zum Beispiel letzten Monat ein schwarzer ehemaliger Uber-Fahrer, dessen Konto deaktiviert wurde, nachdem die automatische Gesichtserkennungssoftware ihn wiederholt nicht erkannt hatte, ein Arbeitsgericht angerufen.
Die erste Aufgabe einer KI-Bill of Rights besteht meiner Meinung nach darin, die bestehenden Schutzmechanismen für eine KI-Welt zu stärken. Sie sollte für algorithmische Entscheidungen in rechtlichen oder lebensverändernden Bereichen gelten. Und, was meiner Meinung nach noch wichtiger ist, sie sollte sich auf Daten und den Schutz der Privatsphäre erstrecken und das Recht des Einzelnen festschreiben, zu erfahren, welche Informationen über ihn gespeichert sind, wie sie verwendet werden und wie sie zwischen Anbietern übertragen werden können.
KI-Entscheidungen sollten nicht aus einer undurchschaubaren Blackbox kommen, sondern „erklärbar“ sein. Ein Gesetzentwurf sollte das Recht des Einzelnen garantieren, zu erfahren, wann ein Algorithmus Entscheidungen über ihn trifft, wie er arbeitet und welche Daten verwendet werden. Das Recht, Entscheidungen anzufechten und Rechtsmittel einzulegen, sollte garantiert sein. Ein gewisses Maß an menschlicher oder unternehmerischer Verantwortung muss beibehalten werden, wobei Manager für Fehler oder fehlerhafte Entscheidungen von Systemen, die sie beaufsichtigen, ebenso verantwortlich sind wie für solche von menschlichen Mitarbeitern.
Aber KI gibt skrupellosen Regierungen wie China und anderen neue Möglichkeiten, ihre Bürger auszuspionieren, zu kontrollieren und potenziell zu zwingen. In einem Gesetzentwurf sollte meiner Meinung nach klar festgelegt werden, welche Technologien zulässig sind und welche nicht, und es sollten klare Regeln für ihre Verwendung aufgestellt werden.
Die amerikanische Bill of Rights-Initiative hinkt den europäischen Bemühungen hinterher. Die Allgemeine Datenschutzverordnung der EU enthält bereits das Recht der Bürger, Entscheidungen, die „ausschließlich auf einer automatisierten Verarbeitung beruhen“, nicht ohne ihre Zustimmung unterworfen zu werden, auch wenn dies nicht weitgehend durchgesetzt wird. Ein vorgeschlagenes KI-Gesetz umreißt eine Hierarchie von Risiken für Technologien, die unterschiedlichen Schutzmaßnahmen unterliegen. Einige, wie z. B. „Social Scoring“ – eine Anspielung auf Chinas Social-Credit-System, das darauf abzielt, Verhalten und Vertrauenswürdigkeit zu bewerten – würden verboten werden.
Meiner Meinung nach sollte die Regierung Biden die Einladung der EU zur Zusammenarbeit in Fragen der KI annehmen. Aber so wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 grundlegende Menschenrechte festlegte, die universell zu schützen sind, ist auch eine globale KI-Charta angebracht. Einige Länder würden sich dafür entscheiden, weiter zu gehen; andere, wie China, könnten sich weigern, die Charta zu unterzeichnen. Aber wie im Kalten Krieg könnte ein besserer Schutz der Menschenrechte, jetzt gegen aufdringliche KI, meiner Meinung nach zu einem Punkt der moralischen Differenzierung und zu einem Druckmittel für Demokratien werden.