Der russische Angriffskrieg in der Ukraine rüttelt die EU auf und beschleunigt ihre Entwicklung zu einer vollwertigen souveränen politischen Macht, die ihre bestehende wirtschaftliche Stärke ergänzt. Die EU ist meiner Meinung nach durch mehrere Krisen mächtiger geworden, Deutschland als ihr wirtschaftliches Kraftzentrum jedoch nicht.
Das „wirtschaftliche Europa“ hat sich zu einer starken und stabilen Gemeinschaftswährung entwickelt, die die Abwertungen aus der Zeit der flexiblen Wechselkurssysteme in weite Ferne rücken lässt. Und seit der Staatsschuldenkrise in der Eurozone hat der Block meines Erachtens auch sein Finanzsystem und seine geldpolitischen Instrumente gestärkt. In jüngster Zeit hat die EU als Reaktion auf die COVID-19-Pandemie konvergierende Wirtschaftsstrukturen und eine gemeinsame Haushaltskapazität entwickelt. Auch dank des 750-Milliarden-Euro-Finanzierungsprogramms „Next Generation EU“, das im Zuge der COVID-Krise aufgelegt wurde, werden durch europaweite Programme starke Kapazitäten in den Bereichen Digitaltechnik, Gesundheit, Wasserstoff und Halbleiter aufgebaut.
Werfen wir nun einen Blick auf Deutschland, ein Land, das immer die gleiche Antwort zu geben scheint, egal wie die Frage lautet. Nehmen wir zum Beispiel die deutsche Steuerpolitik. Die Antwort nach der globalen Finanzkrise? Sparsamkeit. Die europäische Staatsschuldenkrise? Sparsamkeit. Russlands Einmarsch in der Ukraine? Wieder einmal scheint die Antwort des deutschen Finanzministers zu lauten: Sparen.
Aber im Gegensatz zu anderen Ländern in der EU lag das Problem in Deutschland nicht in Überinvestitionen oder Kapitalüberhang. Deshalb hat die Sparpolitik meiner Meinung nach die Unterinvestitionen in Deutschland nur noch vergrößert und seine Wirtschaft weniger widerstandsfähig gegenüber dem jüngsten Energieschock gemacht. Immer wieder die gleiche Antwort zu geben, ist nicht nur extrem langweilig und zeugt nicht nur von mangelnder Kreativität – für das heutige Deutschland ist mehr Sparpolitik meiner Meinung nach auch der falsche Weg.
Die aufeinanderfolgenden Turbulenzen seit der globalen Finanzkrise 2008 haben das Wachstum des deutschen Bruttoinlandsprodukts (BIP) bereits aus dem Ruder laufen lassen.
Bis heute hat die Wirtschaft noch immer nicht zu ihrem Vorkrisentrend zurückgefunden. Noch vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar hat die Pandemie die Schwachstellen offengelegt, die sich aus dem Investitionsrückstand Deutschlands ergeben. Zusammen mit einer alternden Bevölkerung trug dieser Mangel zu einem schwachen Wachstum bei. Der Einmarsch Russlands ist meiner Meinung nach nichts weiter als der jüngste Schock für Angebot und Nachfrage in Deutschland.
Die Bundesbank und das Finanzministerium scheinen der Meinung zu sein, dass dieser Schlag für die Wirtschaft einfach hingenommen werden sollte. Aber die von ihnen befürwortete härtere Finanz- und Geldpolitik würde die Nachfrage weiter dämpfen.
Außerdem gibt es Anzeichen dafür, dass das Trendwachstum in Deutschland weiter abnimmt. Um diesem „Tod durch tausend Schnitte“ Einhalt zu gebieten, bei dem sich mehrere Krisen zu einem beunruhigenden Gesamtbild summieren, bedarf es meiner Meinung nach mutiger Maßnahmen und eines Überdenkens des deutschen Wirtschaftsmodells. Auf internationaler Ebene birgt die deutsche Sparpolitik die Gefahr, die Handelsungleichgewichte zu verschärfen und die transatlantische Einigkeit zu belasten. Die Spannungen zwischen dem Westen und China – einem wichtigen Exportmarkt für deutsche Produkte – haben die exportorientierte deutsche Wirtschaft gebremst. Chinas Streben nach immer größerer Autarkie und die Fragmentierung der globalen Lieferketten werden das deutsche Geschäftsmodell weiter in Frage stellen. Deshalb muss Deutschland aufwachen und die Tatsache akzeptieren, dass der Handel mit der EU siebenmal größer ist als mit China, und endlich erkennen, dass es zuerst im eigenen Land und bei seinen wichtigsten Handelspartnern investieren muss. Die EU ist der größte und offenste Handelsblock der Welt. Aber der volle Nutzen der Union wird meiner Meinung nach ungenutzt bleiben, wenn Deutschland nicht eine Führungsrolle übernimmt.
Anstelle von Sparmaßnahmen sollten die deutschen Politiker dringend einen positiven Einfluss ausüben, um den Schaden für die Versorgung aktiv auszugleichen und die Auswirkungen der Inflation durch den Krieg in der Ukraine zu mildern. Die deutsche Industrie ist auf billige fossile Brennstoffe aus Russland angewiesen. In einem Worst-Case-Szenario eines plötzlichen Stopps der russischen Energielieferungen nach Deutschland in Kombination mit niedrigen Flusspegeln wie dem des Rheins. Ich schätze, dass die kumulativen Auswirkungen der unangemessenen Politik seit der großen Finanzkrise bis zu 15 % des deutschen BIP ausmachen könnten. Ein solcher Schlag erfordert eine komplette Überarbeitung der deutschen Energieversorgung.
Einige, wie die Partei „Die Grűnen“, wollen, dass erneuerbare Energien in den Mittelpunkt rücken, aber es werden ergänzende Quellen benötigt, wenn Deutschland eine sichere und beständige Versorgung haben will. Investitionen in fossile Brennstoffe und Kernenergie im Inland werden meiner Meinung nach dazu gehören. Die Schlussfolgerung ist klar: Die bestehende inländische Versorgung wird nicht in der Lage sein, die Nachfragelücke in Deutschland zu schließen.
Stattdessen könnte das Land in die öffentliche Infrastruktur investieren, und zwar in einem Umfang, der an den Marshallplan erinnert. Insbesondere Investitionen in die Energieinfrastruktur, wie der EU-Plan der nächsten Generation, den Deutschland während der Pandemie unterstützt hat, würden die Sicherheit Deutschlands erhöhen, seinen grünen Übergang beschleunigen und positive Innovationsimpulse auslösen.
Mehr Steuerausgaben in ganz Europa könnten auch einen weiteren Anstoß für gemeinsame Eurobonds geben. Meiner Meinung nach würde die deutsche Öffentlichkeit einer solchen Initiative weniger widerstrebend gegenüberstehen, da zumindest ein Teil der Mittel im Inland ausgegeben würde. Es wäre auch ein Schritt in Richtung Fiskalunion im Euroraum, die meiner Meinung nach ohnehin nur eine Frage der Zeit ist. Höhere Ausgaben im Inland würden auch die gesamte EU stärken. Die tiefe Verflechtung Deutschlands mit der EU-Wirtschaft würde wiederum dazu führen, dass diese wirtschaftlichen Vorteile auch nach Deutschland selbst zurückfließen.
Deutschland verfügt im Prinzip über die Talente und Ressourcen, die für die von mir vorgeschlagenen Investitionen erforderlich sind. Seine Staats- und Regierungschefs sollten eine zuversichtliche Vision für seine Zukunft entwerfen und darauf vertrauen, dass sich Investitionen in ihr Land auszahlen werden. Ja, höhere Ausgaben bedeuten mehr Schulden, aber künftige Generationen werden das Vermögen erben, das durch diese Schulden aufgebaut wird. NICHT zu investieren wird nicht nur zu einem dauerhaften Verlust des BIP führen – es wird auch dafür sorgen, dass Talente das Land verlassen, und das ist ein schwacher Trost für jede Generation.